aus der Vierteljahrsschrift: Der Herold ( Berlin ), Band 9, Heft 9/1980, S. 295-296
Wenn auch die weiter zurückreichende Ahnenforschung, also die Zusammenstellung aller Vorfahren einer Person in der Ahnentafel, für die meisten Familienforscher vorwiegend historische Aspekte hat, zumal wenn man in das 17. oder 16. Jahrhundert zurückgeht, so können doch auch gewisse biologische, also genetische Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Es ist ja eben nicht so, daß die einzelnen Vorfahren den aus der Ahnentafel sich ergebenden rechnerischen Prozentteil der Anlagen auf den Probanden vererbt haben, daß also von einem Ahn der 64er-Ahnenreihe auch ein Vierundsechzigstel der Anlagen auf den Probanden gekommen sind; denn infolge der Reifeteilung wird die Hälfte des Erbguts einer Person von der Vererbung ausgeschlossen, und es ist daher wohl mehr oder weniger ein Zufall, von welchem der Vorfahren nun ein kleinerer oder größerer Anteil an Genen, also an Anlagen, auf den Probanden kommt. Im extremen Fall ist es sogar denkbar, daß man schon von einem der Großelternteile überhaupt keine Erbanlagen mehr hat, wie ich vor längerer Zeit bereits einmal ausgeführt habe1). Wenn es also schon offenbleibt und für den größten Teil der Erbanlagen auch nicht rekonstruierbar ist, von welchem der Vorfahren diese oder jene Anlage kommt, so daß eben der naturwissenschaftliche Gesichtspunkt für weiter zurückliegende Vorfahren mehr oder weniger zurücktritt, so hat Arndt Richter in einem bemerkenswerten Aufsatz, der Prof. Rösch gewidmet ist, darauf hingewiesen, daß bei den Geschlechtschromosomen infolge deren besonderer Stellung beim Erbgang andere Verhältnisse vorliegen2). Es ist bekannt, daß das Geschlechtschromosomenpaar des Mannes aus einem X- und einem Y-Chromosom besteht, während die Frau zwei X-Chromosomen besitzt. Das Y-Chromosom vererbt sich immer nur vom Vater auf den Sohn, also rein in der Manneslinie, was in der Literatur und im allgemeinen Bewußtsein der Biologen und Historiker seit langem bekannt ist. Merkwürdigerweise wurde bisher aber völlig übersehen oder nur am Rande beachtet, daß infolge der Vererbungsweise des Y-Chromosoms logischerweise auch für das X-Chromosom spezielle Vererbungsweisen vorhanden sein müssen, die einen erheblichen Teil der Vorfahren von der Vererbung dieses Chromosoms mit seinen Genen auf den Probanden ausschließen. Hierauf hingewiesen zu haben, ist das besondere Verdienst von Arndt Richter. Um es kurz zu sagen: Ein Mann hat das Y-Chromosom vom Vater und das X-Chromosom von der Mutter. Die Ahnenschaft des Vaters scheidet daher für alle jene Gene, die im X-Chromosom liegen, von vornherein aus. Eine Frau, die zwei X-Chromosome hat, hat eines vom Vater und eines von der Mutter. Bei ihr sind beide Eltern als Träger von Anlagen im X-Chromosom vorhanden. Bei ihren Großeltern scheidet jedoch der Vater des Vaters aus, so daß sie nur von drei der vier Großeltern Anlagen im X-Chromosom haben kann. Untersucht man nun die weiter zurückliegenden Generationen der Ahnentafel unter Berücksichtigung der Tatsache, daß jeweils der Vater einer männlichen Person bei der Vererbung der Anlagen des X-Chromosoms ausscheidet, und fragt, welche Personen der Ahnentafel als Träger der Anlagen der X-Chromosomen für den Probanden in Frage kommen können, so ergibt sich die folgende Zahlenreihe: Bei männlichen Probanden kommt die folgende Zahl von Personen als mögliche Vererber des X-Chromosoms in Frage:
Bei einer Frau kommen als mögliche Vererber von Anlagen des X-Chromosoms in Frage:
Die Zahl der in Frage kommenden Personen ist also bei Mann und Frau, freilich um eine Generation verschoben, gleich. Die Zahl der als Vererber der Anlagen des X-Chromosoms in Frage kommenden Personen wächst von Generation zu Generation in folgender Reihe: 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89, 144, sie bleibt aber immer mehr hinter der Ahnenzahl der Generationen zurück, so daß in der 1024er Reihe der Frau nur noch 144 Personen (14,06 %) und in der 1024er Reihe des Mannes nur 89 (8,69 %) Personen Anlagen des X-Chromosoms auf den Probanden vererbt haben können. Je weiter man zurückgeht, um so geringer wird im Verhältnis zur Zahl der Vorfahren der Prozentsatz der am X-Chromosom des Probanden möglicherweise beteiligten Ahnen. (Es ist nicht ohne Reiz, in der eigenen Ahnentafel diese Personen herauszusuchen.) Ausdrücklich sei jedoch nochmals gesagt: Nicht alle in Frage kommenden Personen müssen an den Anlagen des X-Chromosoms des Probanden beteiligt sein, wichtig ist aber die Feststellung, daß eine zunehmend erhebliche Zahl von Vorfahren daran nicht beteiligt sein können.
Anmerkungen
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