Zur Diskussion:

Neues Licht auf die patrilineare Stammtafel im Zeitalter der Gleichberechtigung?

Das Y-Chromosom ist jetzt genetisch fast entschlüsselt!

von Arndt Richter

 
 

Home

  In meinem Aufsatz "Erbmäßig bevorzugte Vorfahrenlinien bei zweigeschlechtigen Lebewesen" (1979) hatte ich schon den patrilinearen Erbweg des Y-Chromosoms im Rahmen der Ahnentafelstruktur ausführlich dargestellt und auf die generationsunabhängige "Erb-Konstanz" innerhalb der Vater-Sohn-Linie " (by-Wert immer 1 !) besonders hingewiesen. Inzwischen spielt deshalb diese Y-Linie ("reine Manneslinie", früher auch Namens- oder Wappenlinie genannt) eine wichtige Rolle beim sog. "genetischen Fingerabdruck" in der Humangenetik (siehe z.B.: Dr.Tobias Schmidt: Genealogie per DNA; in: Computergenealogie (2003), H. 2. S. 8-11).

An anderer Stelle hatte ich in einer speziellen Bismarck-Ahnentafelstudie (1991) dieses Thema nochmals ideengeschichtlich etwas vertieft. Und zwar unter: Stammtafel-Genealogie = "y-chromosomale" Genealogie. Dort [Kapitel 6, S. 555-556] heißt es u.a.: " Die beiden Geschlechts-Chromosome X und Y kann man sowohl in biologischer als auch genealogischer Hinsicht als fundamentale "Gegenspieler" auffassen (...) "Die Molekulargenetik wird die Frage, ob es so etwas wie ein "Wesen" des Stammes bzw. eines Geschlechts gibt, vielleicht schon in einigen Jahrzehnten oder gar Jahren genauer beantworten können." An eine bloße gen-rudimentäre Statistenrolle dieses kleinsten Chromosoms habe ich nie geglaubt. Bereits 1979 (s.o.) hatte ich über die beiden Geschlechts-Chromosomen X und Y geschrieben: "Mag dabei auch das wesentlich größere X-Chromosom die Hauptrolle bei der Anlagen-Übertragung spielen, so ist die "katalytische", vermutlich sogar "dirigistische" Rolle des Y-Chromosoms sicherlich nicht weniger bedeutungsvoll."

Als Genealoge denke ich hier besonders an den Zusammenhang des Y-Chromosoms mit dem "Fortpflanzungserfolg" einer Familie (Geschlecht) - und damit an die unterschiedlich großen genealogischen Familien-Stammtafeln und das "Aussterben im reinen Mannesstamm" (Y-Linie!). Dieses Thema ist ja nicht nur ein genealogisches, sondern z.B. auch ein soziobiologisches! Am Ende meines "bayerischen Königsbuches" (1997) (S. 153) zitierte ich dazu den Evolutionsbiologen Prof. Wolfgang Wickler (aus seinem Vorwort zur neuen deutschen Ausgabe von Richard Dawkins berühmtem Buch "Das egoistische Gen" (1994): "Auf den unterschiedlichen Fortpflanzungserfolg von Individuen basiert Evolution. Wer Evolution - und damit die eigene Herkunft - verstehen will, der muß individuelle Erfolgsunterschiede samt ihren Gründen und Folgen untersuchen." -  

Diese kleine persönliche "geneTalogische" Rückschau sei vorausgeschickt, um mein großes Interesse für die neusten Forschungen zur molekulargenetischen Entschlüsselung des Y-Chromosoms zu belegen, auf die nachfolgend nur kurz hingewiesen werden kann. Es geht um einen Aufsatz im britischen Wissenschaftsmagazin NATURE von 40 internationalen Forschern mit David Page als US-Projektleiter am Whitehead-Institut in Cambridge/USA; Originaltitel: The male-specific region of the human Y Chromosome is a mosaic of discrete sequences classes (19.6.2003, Bd. 423, S. 825-837). Dieser Aufsatz machte wohl zu Recht auch in der deutschen Tagespresse allgemeine Schlagzeilen.

Dazu hier nur die Schlagzeile aus der F.A.Z. (20.6.03): "Ehrenrettung für den Mann - Erstaunlich progressiv: Das Y-Chromosom ist fertig sequenziert." Weiter heißt es dort: "fast vollständig sequenziert und eine Reihe überraschender Eigenschaften zutage gefördert. Dazu gehört die bemerkenswerte Anzahl an Genen. (...) Mindestens 78 Gene hat man entschlüsselt, 27 darunter enthalten die Informationen für die Herstellung von Eiweißen. Eine Reihe davon, aber längst nicht alle, werden ausschließlich in den Zellen der Hoden benötigt. Ein gutes Dutzend der Y-Chromosom-Gene ist auch an zahlreichen anderen Orten, das Gehirn des Mannes eingeschlossen, aktiv. Das dürfte neuen Raum bieten für Spekulationen hinsichtlich der biologischen oder gar verhaltensbiologischen Unterschiede von Mann und Frau - Spekulationen aber eben bloß."

95 % der Gesamtlänge des Y-Chromosoms nimmt ein abgesonderter (discrete) männlichkeitsspezifischer MSY-Bereich ein ("male-specific region of Y-chromosom"). Der Crossing-over-Bereich zum X-Chromosom beschränkt sich auf die restlichen 5 % und flankiert das MSY an beiden Enden des Y-Chromosom.

Auf die weiteren neusten überraschenden Entdeckungen dieser internationalen Forschergruppe, z.B zur "einzelkämpferischen" Selbstreparatur fataler Gendefekte innerhalb des Y-Chromosoms, sei hier nur hingewiesen (spiegelbildlich-identische Mehrfachgene sind in sog. "Palindromen" angelegt). Auch zu den entwicklungsgeschichtlichen Unterschieden der einzelnen Y-Chromosomen-Bereiche konnten die Forscher interessante Angaben machen, die hier aber für unsere genealogisch erforschbaren Zeiträume natürlich weniger relevant sind.

Ich würde es begrüßen, wenn diese Forschungshinweise neuen Stoff für eine Diskussion meiner Titelfrage Neues Licht auf die patrilineare Stammtafel im Zeitalter der Gleichberechtigung? bieten würden. Aus der Vielzahl von Meinungen zu diesem alten genealogischen Streitthema sei hier nur eine frühere Literaturstelle beispielhaft genannt, da dort sehr lebendig aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln diskutiert wurde: Günther Nieß: Nomen est Omen? in: Genealogie (1983), H.12, S. 753-755. Dazu eine Entgegnung von Franz Kömpf; in: Genealogie (1984) H. 8, S. 270-271.

Vielleicht kann die Entschlüsselung des Y-Chromosoms jetzt etwas dazu beitragen, den "ewigen genealogischen Stammtafelstreit" sachlicher zu differenzieren und neue Brücken zwischen den Genealogen, aber vielleicht auch interdisziplinäre Brücken zwischen verwandten Wissenschaftsdisziplinen und der Genealogie zu bauen.

Gern würde ich mich dann aufgrund meiner jahrzehntelangen "geneTalogischen" Interessen hier mit einmischen, wobei ich mich bereits zu zwei persönlichen "Standpunkten" bekenne:

1. In einer Familien-Stammtafel müssen alle weiblichen Personen (Töchter aller männlichen Stammtafel-Personen des "Y-Geschlechts") mit aufgeführt werden. Bei den ausheiratenden Töchtern sind auch die Männer datenmäßig genau anzugeben, damit eine Stammtafel-Verbindung zu den anderen(!) Familien (Geschlechtern) gewährleistet ist. Die Kinder der Y-Frauen gehören nicht in die Y-Stammtafel der Väter, sondern in die jeweiligen Stammtafeln ihrer Männer (es sei denn, man möchte eine sog. Gesamt-Nachkommentafel aufstellen).

2. Der hohe Stellenwert, der der patrilinearen Stammtafel aus ordnungswissenschaftlichen Gründen (Familienzusammenfassung und Namensordnung!) für die genealogischen Sammlungen in Archiven und Stammtafel-Reihenwerken noch immer zukommt, sollte bei den Diskussion nicht übersehen werden.

 
  Nach oben