aus: Familienkundliche Nachrichten; Bd.12, Juli-Sept. 2002, Nr. 3 S. 76-79. Verlag Degener & Co. Neustadt/Aisch.
Arndt Richter (geb. 1934 in Dresden) gehört zu den wenigen genealogischen Autoren, denen man in ihren Veröffentlichungen keine politisch gefärbte Korrektheit vorwerfen kann, d.h. für ihn sind Genealogie und Genetik nur zwei Seiten der gleichen Medaille (1). Mit seinen Veröffentlichungen seit Ende der 80er Jahre kann man Richter als Begründer der "GeneTalogie" ( = Genealogie + Genetik + Statistik) bezeichnen, die er auf dem Fundament der Quantitativen Genealogie aufgebaut hat, die sein Lehrer Prof. Dr. Siegfried Rösch (1899-1984) in den 50er Jahren begründete. Oder anders formuliert: GeneTalogie = Quantitative + X-chromosomale Genealogie.
Der Einfluß der Gene auf die Ausprägung geistiger Eigenschaften ist ein sehr sensibles und vielfach ideologisiertes Thema. In Deutschland waren solche Arbeiten manchmal geradezu verpönt. Die im vorigen Jahr leidenschaftlich geführte Mailinglisten-Diskussion in einigen genealogischen Foren sind ein ausdrucksvolles Beispiel dafür. Jetzt lösen sich diese Verkrampfungen, die bisweilen sogar wissenschaftlich unstrittige Sachverhalte (auch molekulargenetische) ignorierten.
Hubert Markl, bis vor kurzem noch Präsident der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, beginnt seinen Beitrag im neusten Band der Heidelberger Jahrbücher, 2001 (Herausgeber Michael Wink), der unter dem Generalthema "Vererbung und Milieu" steht, mit den Worten: "Die Gene haben das Feuilleton erobert; Konrad Lorenz hätte seine helle Freude daran gehabt."-
Interessant, daß es gerade der Geisteswissenschaftler und Mitherausgeber der F.A.Z., Dr. Frank Schirrmacher (* 1959 in Wiesbaden, Studium der Germanistik, Anglistik, Literatur und Philosophie) war, der sich massiv dafür in seiner Zeitung eingesetzt hat. In einer Podiumsdiskussion (17. Sinclair-Haus-Gespräch der Herbert Quandt-Stiftung 9./10.11.2001 in Bad Homburg) antwortete Schirrmacher auf die Frage, ob es im Hause der F.A.Z. schwierig war, daß jetzt naturwissenschaftliche Themen (besonders Genetik) auf Seite 1 und vor allem im Feuilleton so groß aufgemacht werden: "Das war nicht immer leicht....Mich hingegen faszinierten bei diesen Themen vor allem die ganz engen Beziehungen zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften, und hier besonders die Beziehung zur Biologie. Sie ist, wenn Sie so wollen, die geisteswissenschaftlichste Disziplin. Sie erfand die gewaltigste und zugleich unklarste Metapher des Lebens: das Gen."-
Nicht nur der amtlich eingesetzte "Psychiater-Genealoge" Dr. Wilhelm Strohmayer, sondern fast die gesamte "Avantgarde" der wissenschaftlich orientierten Genealogie, - darunter so große Namen wie Ottokar Lorenz, Stephan Kekule von Stradonitz, Otto Forst de Battaglia, Johannes Hohlfeld, Emil Eugen Roesle und Georg Armborst, - entdeckten in der Ahnentafel der beiden bayerischen Könige höchsten nur 3 mutmaßliche "Ur"-Erbüberträger-Ahnen in ziemlich weit zurückliegenden Generationen, nämlich: Wilhem d.J. v.Braunschweig-Lüneburg (1535-1592), Marie v.Jülich-Berg (1491-1543) und Johanna v.Kastilien, "die Wahnsinnige" (1479-1555). Daß alle diese 3 mutmaßlich-relevanten Ahnen auf erbmäßig bevorzugten X-chromosomalen Erblinien liegen, ist die eigentliche geneTalogische Kernaussage in Arndt Richters Buch und damit auch eine weitere Stütze seiner geneTalogischen These.
Arndt Richters These von der besonderen Mittlerrolle X-chromosomaler Gene bei der Ausprägung geistiger Eigenschaften erscheint im Rahmen der neueren internationalen humangenetischen Forschungen jetzt aktueller denn je und in neuem Licht. Prof. Dr. Horst Hameister, Abt. Humangenetik der Universität Ulm, konnte nämlich unlängst mit seiner Arbeitsgruppe feststellen, daß die Rate der Intelligenz-Gene auf dem X-Chromosom rund dreimal so hoch wie jene auf den nicht geschlechtsgebundenen Chromosomen (Autosomen) ist (F.A-.Z. v. 19.12.2001: "Intelligenz als Frauensache. Gene für geistige Fitneß überwiegend auf dem X-Chromosom"; rde). Dazu auch etwas reißerisch: DIE ZEIT v. 29.11.2001: "Sesselhocker. Warum sitzen Deppen statt Frauen in den Chefetagen?" von Christiane Löll.
Arndt Richter hat bereits 1991 im positiven Sinne seine "X-chromosomale These" an der gut erforschten Ahnenschaft von Reichskanzler Otto v.Bismarck (1815-1898) zu untermauern versucht: Eine "Prachtgestalt" in Bismarcks Ahnentafel - Aus der Ideengeschichte einer Wissenschaft; in: Archiv für Sippenforschung (1990/91), H.120, S. 537-567; jetzt auch in seiner GeneTalogie-Homepage www.genetalogie.de.
Zur Zeit arbeitet Richter als Goethe-Genealoge (Siegfried-Rösch-Archiv) an einer geneTalogischen Goethe-Genealogie-Studie zur weiteren Untermauerung seiner "X-chromosomalen These". Er hatte diese bereits in seinem "Königsbuch" angekündigt (S. 142). Auf der gut besuchten Goethe-Genealogie-Website www.goethe-genealogie.de , für die Richter inhaltlich verantwortlich zeichnet, kann man z.B. die X-chromosomale Erblinie vom Maler und Zeichner Lucas CRANACH d.Ä.(1472-1533) bis Goethe verfolgen. Richters derzeitige Goethe-Genealogie-Studie beschäftigt sich vor allem mit der hessischen Gelehrten- und Beamtemfamilie ORTH, die mit ihren verwandtschaftlich verflochtenen Töchterfamilien in Goethes Ahnenschaft geneTalogisch eine sehr wichtige Rolle spielt.
Im negativen Sinne durchzieht seine "X-chromosomale These" das ganze o.g. "Königsbuch" wie ein roter Faden (S. 10, 20, 34, 55, 73, 132, 134, 137, 142, 153; Anm.75e). Das Buch stellt mit seinen zahlreichen relevanten Literaturhinweisen zugleich auch eine Wissenschaftsgeschichte der biologisch orientierten Genealogie dar. Damit dürfte Arndt Richter zusammen mit seinem Koautor Weert Meyer (geb. 1955 in Mittegroßefehn/ Ostfriesland; Kapitel XII und großem Statistik-Anhang!) wohl einen weiteren Meilenstein in der wissenschaftlich-orientierten Genealogie gesetzt haben.
Bereits 1979 hatte Arndt Richter mit seinen geneTalogischen Folgerungen, die sich aufgrund des speziellen X-chromosomalen Erbganges ergeben, nicht nur in genealogischen Kreisen für Aufsehen gesorgt. Innerhalb ein und derselben Ahnengeneration besitzen die einzelnen Ahnentafelplätze (Ahnen-Nrn.) nämlich je nach geschlechtlicher Filiationslinien-Kombination (Mann-Frau-Frau-Mann-...) quantitativ unterschiedliche Erbwahrscheinlichkeitswerte, wobei auch noch das Geschlecht der Ahnentafel-Probanden eine Rolle spielt. Gewisse Ahnentafelplätze kommen für eine X-chromosomale Vererbung sogar niemals in Frage. Siehe: "Erbmäßig bevorzugte Vorfahrenlinien bei zweigeschlechtigen Lebewesen ..."; in: Archiv für Sippenforschung (1979), H. 74, S. 97-109. Der Artikel ist jetzt auch in die GeneTalogie-Website www.genetalogie.de aufgenommen worden.
In Bezug auf die eklatanten Ahnenhäufigkeitsunterschiede bestimmter Personen innerhalb der gleichen Ahnengeneration, die wohl nur Genealogen (!) aus den Tiefendimensionen ihrer gut erforschten Dynastengenealogien sichtbar machen können, schreibt Arndt Richter am Ende seines Buches : " Vor 3 Jahren schrieb der Verhaltensphysiologe und Evolutionsbiologe Prof. Wolfgang Wickler [Schüler von Konrad Lorenz]: "Auf dem unterschiedlichen [Fortpflanzungs]Erfolg von Individuen basiert Evolution. Wer Evolution - und damit die eigene Herkunft - verstehen will, der muß individuelle Erfolgsunterschiede samt ihren Gründen und Folgen untersuchen." Aus dem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Richard Dawkins: Das egoistische Gen; rororo-SB, 1996.
Sinngemäß äußerte sich auch erst kürzlich der o.g. frühere MPG-Präsident und Evolutionsbiologe Hubert Markl bezüglich dieses "Evolutionsfaktors", der ja vor allem in die genealogische Zuständigkeit fällt. D.h. dem Nachweis von geneTalogischen Ungleichheitsstrukturen im großen Verwandtschaftsgeflecht der Menschheit: "unterschiedlich erfolgreich in der Fortpflanzung und damit in deren relativer Häufigkeit in der nächsten Generation" (Hubert Markl). In: F.A.Z. v. 27.11.2001, S. 49: "Eine Raupe ist noch kein Schmetterling" [Embryonen-Streit!].
12 Fachzeitschriften-Rezensionen zum o.g. Buch Arndt Richters haben wir bereits in den Familienkundlichen Nachrichten (2001) Nr. 10 , S. 302-305 veröffentlicht. Jetzt auch unter www.genetalogie.de und www.degener-verlag.com einsehbar.
Ein grafisches Darstellungsbeispiel einer verwandtschaftlichen Dynasten-Verflechtung, der 17-fachen Abstammung der bayerischen Könige vom geisteskranken Wilhelm d.J. v.Braunschweig-Lüneburg und Gemahlin, zeigen wir aus dem "Königsbuch" (Abb.4, S.38) auf der nächsten Seite. Alle 4 X-chromosomalen Erblinien von Wilhelm d.J. führen über Marie v.Preußen, der Mutter der beiden bayerischen Könige. Es geht aber aus dieser Grafik hervor, daß z.B. auch Friedrich der Große und die Mutter der österreichischen Kaiserin Maria Theresia von jenem geisteskranken Wilhelm d.J. abstammen, indessen - und darauf sei ausdrücklich hingewiesen! - nicht über X-chromosomale Erblinien.
Richters Herzensanliegen einer interdisziplinären Zusammenarbeit wird durch seine weiteren geneTalogischen Befunde und großen statistischen Auswertungen (28 gelbe Anhangsseiten!), - realisiert durch ein spezielles EDV-Ahnen-Statistikprogramm seines Koautors Weert Meyer - zur geneTalogischen Herausforderung. Der häufig zitierte Satz des Begründers der neuzeitlicheren wissenschaftlichen Genealogie Ottokar Lorenz (1832-1904): "Die Brücke auf welcher sich die geschichtliche und Naturforschung begegnen und begegnen müssen, ist die Genealogie" erscheint in neuem Licht und wird hier auch um einen fesselnden Gegenstand bereichert, der jetzt von der High-Tech-Molekulargenetik immer mehr hinsichtlich seiner psycho-physischen Wirkunsweise aufgeklärt wird.
1 : "So wie der Verlauf der Flüsse durch die Landschaft geprägt ist, so wird der Weg der Vererbung durch genealogische Strukturen bestimmt. (...) Die Abstammungslinien der Genealogie (hier auch Filiationslinien genannt) entsprechen vollkommen den Vererbungslinien der Genetik (hier auch Genfluß oder Keimbahn genannt)!"
aus: Arndt Richter: Die Ahnentafel im Lichte der Genetik; in: Genealogie (1997), Heft 7/8, S. 626. Gesamter Aufsatz (S. 626-631) mit weiterführenden GeneTalogie-Verweisen siehe hier.