Genetalogie Homepage

Die Genealogie als Hilfswissenschaft der Humangenetik

Dorothee Früh


    Einleitung    
 I. Die Intentionen der Protagonisten   Teil 1  
      Teil 2  
    II. Institutionalisierung und Politisierung -
die Wissenschaftliche Genealogie in der Psychiatrischen Genetik
   
  III. Quantitative Genealogie    
      Abkürzungen  
      Bibliographie  


 

  I. Die Intentionen der Protagonisten (Teil 2)

   In Lorenz' "Lehrbuch der gesamten wissenschaftlichen Genealogie" nimmt das Thema "Vererbung pathologischer Eigenschaften" das ganze fünfte Kapitel ein. Der Historiker rückt die Genealogie in diesem Zusammenhang in die Nähe der Individualstatistik. Es handle sich hier freilich um eine Art von "Statistik", die nicht ausschließlich mit Zahlen zu tun habe; sondern hier gehe die Individualisierung jedes Falles mit der Kollektivierung zu statistischen Zwecken Hand in Hand. Die "pathologische Statistik" halte sich, so Lorenz (1898: 429) "doch ihrer Natur nach mehr an die Individualisierung jedes Falles [...] weil sich die Frage der Erblichkeit überhaupt und der erblichen Belastung im besondern nicht ohne Untersuchung ganz bestimmter Familienzusammenhänge beantworten läßt. In Folge dessen hat die Genealogie nirgends so großen Eingang gefunden, als in den pathologischen und speziell psychiatrischen Statistiken." [10]  
   Unter den Psychiatern, die die potentielle Bedeutung der genealogischen Methode für die Humanbiologie erkannt hatten, ist u.a. Robert Sommer zu nennen, der Direktor der Klinik für psychische und nervöse Krankheiten in Gießen war. 1907 erschien sein Buch " Familienforschung und Vererbungslehre " und er nahm die Gelegenheit wahr, auf der Jahresversammlung des deutschen Vereins für Psychiatrie vom 26. bis 28. April 1907 in Gießen "über Psychiatrie und Familienforschung" zu referieren (Grotjahn und Kriegel 1908: 43). Verdienste um die Humangenetik erwarb sich Sommer außerdem als Initiator der " Kurse für Familienforschung, Vererbungs- und Regenerationslehre in Gießen ", darin unterstützt von seinem Kollegen Dannemann. Bereits auf den ersten dieser Kurse, der 1908 stattfand, wurde nicht allein in medizinischen und genealogischen Fachblättern hingewiesen, sondern beispielsweise auch in der Politisch-anthropologischen Revue ([Gießener Kursus] 1908/09), im Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie ([Kurs] 1908) und in dem von A. Grotjahn und F. Kriegel herausgegebenen " Jahresbericht der Sozialen Hygiene ..." (Grotjahn und Kriegel 1909: 19).  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 Die Auflistung der während des " Ferienkursus über Familienforschung und Vererbungslehre " [11] behandelten Themen gibt einen Überblick über die Interessensschwerpunkte der genealogisch orientierten Naturwissenschaftler und Mediziner: Den 56 Teilnehmern des Kurses erläuterte 1908 zunächst "Kékulé von Stradonitz die Grundbegriffe der Genealogie. [...] Die menschliche Keimentwicklung stellte [Anatomie-]Professor Strahl dar, während [Botanik-]Professor Hansen über die Vererbungsregeln der Pflanzen, insbesondere über das Mendelsche Gesetz sprach. Auf dieser breiten naturwissenschaftlichen und genealogischen Grundlage erörterte sodann Professor Sommer die angeborene Anlage des Menschen vom psycho-physiologischen Standpunkte, besonders als Ausgangspunkt aller Betrachtungen über die Vererbung von Eigenschaften. [...] Das Thema der angeborenen Anlage im Gebiete der Geisteskrankheiten und der Kriminalität wurde [...] durch Herrn Professor Dannemann erläutert" ([Gießener Kursus] 1908/09: 447-448; vgl. [Kurs] 1908: 304).
Am Ende des Kurses wurde, so berichtet Dannemann (1909), einstimmig eine Entschließung verabschiedet, "wonach zur planmäßigen Verbindung der naturwissenschaftlichen und genealogischen Arbeit, zur Sammlung familiengeschichtlicher Tatsachen die Leipziger 'Zentralstelle f. deutsche Personen- u. Familiengeschichte' als geeignet erklärt und der Beitritt zu dieser anheimgegeben" wurde. Die Finanzierbarkeit vorausgesetzt, wurde die Einrichtung "einer besonderen Abteilung für naturwissenschaftliche Beobachtungen genealogischer Tatsachen bei der Zentralstelle" vorgesehen (Breymann 1909: 96). "Zum Zwecke der Schaffung einer gemeinschaftlichen Arbeitsorganisation wurde eine Kommission gewählt", die beispielsweise "Formulare für Vererbungsbeobachtungen" ausarbeiten sollte (vgl. Breymann 1909: 97; Dannemann 1909: 2f.) Die Mitglieder der Kommision waren Rechtsanwalt Dr. Hans Breymann, einer der Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender des Fördervereins der Zentralstelle , Stephan Kekule von Stradonitz und Adolf von den Velden. Diese drei Männer waren als Genealogen mit den Methoden der Datensammlung für die Familienforschung vertraut. Mit den Professoren Dannemann und Sommer waren außerdem zwei Vertreter der Psychiatrie im Gremium und mit Prof. Dr. Ignaz Kaup, dem Abteilungs-Vorsteher der Zentralstelle für Volkswohlfahrt in Berlin, ein Mann der Politik und Verwaltung. Auch der Mediziner Alfred Ploetz, der Protagonist der deutschen Rassenhygiene, war 1908 in das Arbeitskomitee gewählt worden, er war jedoch 1912 nicht mehr dabei als die anderen Mitglieder in Gießen einen weiteren Kurs zum Themenbereich Familienforschung und Humangenetik vorbereiteten (Sommer 1912: 1). [12]
 

 

 

 

 

 

 

Vergleicht man das Programm dieses 1912 wieder in Gießen stattfindenden Kurses mit der Liste der 1908 dort behandelten Themen, findet man, dass sich das Spektrum genealogisch-humangenetischer Forschung in wenigen Jahren erheblich erweitert hatte. Neben methodischen Fragen wurde über das Problem der Inzucht und die Vererbung geistiger Eigenschaften gesprochen (vgl. Liste I) . Während an dem Gießener Kurs von 1912 etwa 100 Männer und Frauen teilnahmen - knapp doppelt so viele wie 1908 - fand ein sich anschließender (kleiner) Kongreß das Interesse von 160 Personen (Dannemann 1909: 2f; Sommer 1912: 2) [13] . Hier wurde über Datensammlung und -auswertung, über Vererbungstheorien, und über die Themenkomplexe Sozialpädagogik, Kriminalbiologie und Eugenik gesprochen [14] . Mehrfach wurde darauf hingewiesen, dass humanbiologische Familienforschung nicht als Selbstzweck zu betreiben wäre. Gerade die pathologisch-genealogischen Studien seien insofern anwendungsorientiert, als man von den Ergebnissen Aufschluss über die Ätiologie bestimmter Gesundheits- und Verhaltensstörungen erhalten werde (vgl. Liste II) .
Das Argument der Anwendungsorientiertheit wurde von den Vertretern einer biologisch-genealogischen Forschungsrichtung vor allem dann verwendet, wenn man der Forderung nach Einrichtung und Finanzierung wissenschaftlicher Institute Nachdruck verleihen wollte.
 

 

Genetalogie Homepage


Seitenanfang 

  I. Die Intentionen der Protagonisten   Teil 1

weiter: II. Institutionalisierung und Politisierung


Fußnoten

[10] Zur Behandlung und Bearbeitung von statistischem Massenmaterial (Kollektivierung) bzw. "individualisierende[n] Beschreibung" einzelner Fälle vgl. Weber 1993, S. 147. Siehe auch Lenz 1927: 411, 416f. zurück  
[11]   Grotjahn und Kriegel (1909): 19. zurück  
[12]   "An der Durchführung des Kursprogramms hatten ferner die Herren Sanitätsrat Dr. Weinberg in Stuttgart und Augenarzt Dr. Crzellitzer in Berlin Anteil." (Sommer 1912: 1.) zurück 
[13]  Dannemann (1909: 2f) vermerkte in seinem Bericht über den ersten Kurs: "Von den Teilnehmern gehörten 21 dem Ärztestande an, 7 waren Geistliche, 13 Lehrer bezw. Direktoren von Lehranstalten, 6 Juristen und 9 entstammten verschiedenen Berufen (Maler, Verleger, Chemiker usw.)." zurück  
[14]  Die auf diesem Kongress gehaltenen Vorträge erschienen in einem von Sommer herausgegebenen 190 Seiten starken "Bericht". Eine Ausstellung, die zunächst den Kursteilnehmern Anschauungsobjekte bot, war während der Zeit des Kongresses, "auch dem Publikum gegen Entgelt, am Sonntag, den 14. IV. unentgeltlich zugänglich, wovon reichlich Gebrauch gemacht worden ist". Sommer 1912: 187. zurück  
 

 

Genetalogie Homepage


Seitenanfang 

  I. Die Intentionen der Protagonisten   Teil 1

weiter: II. Institutionalisierung und Politisierung