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Die Genealogie als Hilfswissenschaft der Humangenetik

Dorothee Früh


   Einleitung    
 I. Die Intentionen der Protagonisten  Teil 1  
     Teil 2  
   II. Institutionalisierung und Politisierung -
die Wissenschaftliche Genealogie in der Psychiatrischen Genetik
   
  III. Quantitative Genealogie    
     Abkürzungen  
     Bibliographie  



II. Institutionalisierung und Politisierung -
die Wissenschaftliche Genealogie in der Psychiatrischen Genetik

   Die Geschichte der Institutionalisierung der Humangenetik und ihrer Hilfswissenschaft, der Wissenschaftlichen Genealogie, ist auch die Geschichte der Politisierung dieser Forschungsrichtung. Bereits 1910 hatte Robert Sommer den Vorschlag gemacht, eine psychiatrische Abteilung am Reichsgesundheitsministerium einzurichten (Vgl. Weber 1993: 114). Dafür setzte sich der Psychiater Ernst Rüdin, der in München an der Nervenklinik wissenschaftlich tätig und gleichzeitig stark in der rassenhygienischen Bewegung engagiert war, ein Jahr später ebenfalls ein. Eine ausreichend breit angelegte Sippenforschung könne am besten von einer staatlichen Stelle durchgeführt werden. Der für die Einrichtung eines solchen Instituts notwendige finanzielle Aufwand könnte nach Rüdins Ansicht später wieder eingespart werden, wenn weniger "Defekte und Kranke aller Art" versorgt werden müßten (vgl. Weber 1993: 106f).  
  Durch Emil Kraepelin, den akademischen Lehrer und Förderer Rüdins, war "eine messende, zählende und klassifizierende Betrachtungsweise in die klinische Psychiatrie" eingeführt worden (s. Weber 1993: 100). Kraepelins klare Einteilung verschiedener psychischer Störungen in "sinnvolle diagnostische Kategorien" (ebd.), war die Voraussetzung für Rüdins psychiatrische Genetik. Rüdin vermutete, dass verschiedenen "Geisteskrankheiten" jeweils spezifische Erbanlagen zugrunde lagen und er hoffte mit Hilfe familienstatistischer Verfahren den wissenschaftlich exakten Nachweis dafür erbringen zu können [15].  
   Zwischen Frühjahr 1912 und Herbst 1913 untersuchte Rüdin 701 Familien mit insgesamt 4823 Kindern für eine Studie "Zur Vererbung und Neuentstehung der Dementia praecox". (Anstelle der Bezeichung Dementia praecox wird heute meist der Ausdruck Schizophrenie verwendet.) Rüdins Biograph Weber (1993: 111) bemerkt, in dieser 1916 veröffentlichten Arbeit habe Rüdin "die beliebige Kollationierung 'interessanter Fälle', die einseitige Betrachtung von Stammbäumen und Sippschaftstafeln sowie die weitgehend willkürliche Datenauslegung [überwunden], indem er sich um eine repräsentative Stichprobengewinnung und um die Anwendung statistischer Verfahren bemühte, die nach dem damaligen Kenntnisstand als wegweisend gelten mußten." [16]
Finanzielle Zuschüsse zu Rüdins Arbeit "gewährten die Bayerische Akademie der Wissenschaften und die mit den psychiatrischen Standesvereinen Deutschlands verbundene Laehr-Stiftung." (Weber 1993: 109.)
 
  Mäzene waren es auch, die die Einrichtung einer außeruniversitären psychiatrischen Forschungsanstalt ermöglichten, an der systematische psychiatrisch-genealogische Studien in großem Stil durchgeführt werden konnten [17]. Die praktische Forschungstätigkeit der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie (DFA) begann am 1. April 1918. Ernst Rüdin wurde Abteilungsleiter der Genealogisch - demographischen Abteilung (GDA) der DFA (Weber 1993: 119f).
Lorenz' Lehrbuch stand übrigens von Anfang an in der Bibliothek der GDA (Weber 1993: 97).
 
  Die Psychiaterin Edith Zerbin-Rüdin berichtete 1996 in dem für Genealogen herausgegebenen Periodikum Herold über die Arbeit in der Abteilung ihres Vaters: "Die GDA verfolgte drei Hauptlinien: 1. Die serienmäßige Erforschung der Familien psychiatrischer Patienten. (...) 2. Die Erforschung von Durchschnittsfamilien. (...) 3. Zwillingsforschung." (Zerbin-Rüdin 1996: 175.)  
  "Um ein möglichst vollständiges Bild der Verwandten 1. und 2. Grades - Eltern, Geschwister, Kinder - zu erhalten, wurden möglichst viele Familienmitglieder persönlich aufgesucht. Manche Untersuchungen bezogen auch Verwandte 3. und höheren Grades mit ein. (...) Im Lauf der Jahre entstanden so etwa 27 000 Familien- und Zwillingsstammbäume." (Zerbin-Rüdin 1997: 177f.)  
  Untersucht wurde die erbliche Belastung von Familien mit psychisch Kranken, Epileptikern, geistig Behinderten, neurologisch Erkrankten, Mißgebildeten, Kriminellen und Höchstbegabten (Zerbin-Rüdin 1997: 178-180).  
  1933 veränderten sich die Arbeitsbedingungen für die Forscher und Forscherinnen an der GDA. Das Inkrafttreten des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses wurde von dem Rassenhygieniker Rüdin begrüßt; er war 1934 einer der Verfasser des Kommentares zu diesem Gesetz. Der Wissenschaftler Rüdin stellte jedoch bald fest, dass das Gesetz eine Erschwernis für seine Arbeit mit sich brachte. Seit für Ärzte und Pflegepersonal die Pflicht bestand vermutlich Erbkranke und damit zu Sterilisierende zu melden, waren Verwandte von vermutlich erbkranken bzw. sozial auffälligen Personen bei familienbiologischen Erhebungen deutlich weniger auskunftsfreudig. Rüdins Bemühungen, die GDA von der Meldepflicht zu befreien, hatte jedoch Erfolg (Weber 1993: 186f). Die Forschungstätigkeit mußte aus anderen Gründen eingeschränkt werden. Die personalintensive Arbeit an der GDA war während des Krieges kaum noch zu leisten, "sodass ein Teil des mühsam gesammelten Materials bis heute unbearbeitet blieb." (Zerbin-Rüdin 1996: 181.) 1945 wurde Rüdin, der 1937 in die NSDAP eingetreten war, von den Amerikanern amtsenthoben. Die GDA wurde danach von Bruno Schulz, einem engen Mitarbeiter Rüdins, weitergeführt. 1954, nach dem Tode von Schulz, bestand die Abteilung nurmehr als "Ein-Frau-Betrieb", nämlich durch die Tätigkeit von Ernst Rüdins Tochter fort. Mit der Pensionierung Zerbin-Rüdins hörte diese Institution 1986 auf zu bestehen. Die Professorin meint dazu:
"Die große Zeit der wissenschaftlich-medizinischen Familienforschung, insbesondere der psychiatrisch-genetischen, an großen, unausgelesenen Serien ist vorüber. Wegen des Datenschutzes wäre sie wohl auch heute nicht mehr möglich, zumindest nicht in Deutschland. Sie ist aber auch nicht mehr nötig, denn die empirischen Risikoziffern stehen im wesentlichen fest. Man fragt sich nun, was diese Ziffern bedeuten und geht die als erbabhängig erkannten Störungen mit molekulargenetischen Methoden an. Dazu betreibt man wiederum Familienforschung. Aber anders als früher benötigt man gerade ausgelesene 'informative' Familien mit mehreren Merkmalsträgern und einer ausreichenden Zahl lebender, für molekulargenetische Untersuchungen zur Verfügung stehender Familienmitglieder, betroffener und nicht betroffener."(Zerbin-Rüdin 1997: 182.)
 
  Kann oder muss man demzufolge die Periode der biologisch-genealogischen Forschung als abgeschlossen betrachten? Dies ist zumindest diskussionswürdig, da das genealogische Datenmaterial größtenteils noch vorhanden ist. Die von der GDA erstellten Familientafeln lagern in verschiedenen Archiven der Max-Planck-Gesellschaft und die während des Dritten Reiches vom Reichssippenamt [18] gesammelten sippenkundlichen Unterlagen befinden sich in der Deutschen Zentralstelle für Genealogie (DZfG) in Leipzig. Sie sind dort seit dem 3. 10. 1990 wieder für die Öffentlichkeit zugänglich. Die DZfG, die dem Staatsministerium des Inneren des Freistaates Sachsen unterstellt ist, ist indirekt eine Nachfolgeinstitution der Zentralstelle für deutsche Personen- und Familiengeschichte, die von 1904 bis 1954 in Leipzig bestand [19].  
  Im "Merkblatt für Benutzer und Interessenten" der DZfG, heißt es: "Die DZfG hat die Aufgabe, aus dem gesamten deutschen Sprachraum personen- und familiengeschichtliche Publikationen, insbesondere auch ungedruckte Vorarbeiten dazu, zu sammeln, zu archivieren, zu sichern, zu erschließen und der interessierten Öffentlichkeit sowie zur Unterstützung wissenschaftlicher Forschungen im Rahmen historischer, soziologischer, demographischer, humangenetischer oder juristischer Fragestellungen bereitzustellen." [20] [Hervorhebung hinzugefügt, D.F.]  

 

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Fußnoten

[15] Dieser Forschungsansatz war relativ neu; er wurde gegen Ende der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts erst von sehr wenigen Psychiatern für angemessen gehalten. Die Mehrzahl von Rüdins Kollegen war geneigt, "sämtliche psychopathologischen Auffälligkeiten als Beleg einer undifferenzierten erblichen Entartung zu werten" (Weber 1993: 111) und daher der gleichen Ansicht wie der Psychiater Georg Lomer (1904/05: 698f), der dazu aufforderte bei der Erstellung von Ahnentafeln zum Nachweis der Erblichkeit eines Merkmals den "Begriff 'Heredität' ganz außerordentlich weit" zu fassen. (Zum Wandel der Begriffe Erblichkeit und Entartung s. Kap. 1 und 2 in Czarnowski 1991 und Früh 1997: 121f, 424f.)
 
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[16] Bahnbrechend war bereits die Veröffentlichung Herman Lundborgs (1913) gewesen, eines schwedischen Kollegen von Rüdin. Für Lundborg wie für Rüdin hatte jeweils der bereits erwähnte W. Weinberg adäquate statistische Verfahren zur Auswertung der gesammelten Daten entwickelt (Früh 1996: 115; zur Bedeutung von Weinbergs Probandenmethode für Rüdins Arbeit vgl. Weber 1993: 100-104).  zurück  
[17]  Die jüdisch-amerikanischen Familien Loeb, Heinsheimer und Warburg beeinflußten den Werdegang der Deutschen Forschungsanstalt bis zum Ende der dreißiger Jahre durch ihre finanziellen Zuwendungen (Weber 1993: 10; 117-119). Auch aus der Industrie kamen Spenden, sodass am 13. Februar 1917 die öffentliche Stiftung "Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie" "nach bayerischem Landesrecht durch das Münchener Staatsministerium des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten mit Genehmigung König Ludwigs III. errichtet" werden konnte.  zurück  
[18] Das Reichssippenamt war die "einzige Behörde, die zur Ausstellung des Abstammungsnachweises berechtigt war. (...) Weitere Aufgaben des R. waren: Sicherung sippenkundlicher Quellen, wie z.B. das Abfotografieren von alten Kirchenbüchern, Auswertung jüdischer Personenstandsregister, Förderung sippenkundlicher Vereine." Loohs, Alexa (1997): Reichssippenamt.
 
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[19]  Von 1967 an war in der "Zentralstelle für Genealogie in der DDR" (in der ein Großteil der Bestände des Reichssippenamtes und "verschiedene Sammlungen von aufgelösten Vereinen" zusammengeführt worden sind), das Archivmaterial wieder für die Öffentlichkeit zugänglich.  zurück  
[20] In der DZfG werden die seit 1920 erstellten Ortsfamilienbücher, in denen aus Kirchenbüchern erhobene Personalien abgedruckt sind, ebenso bereitgestellt wie die Ahnenstammkartei des deutschen Volkes (ASTAKA) u. a. für die Sippenkunde/Genealogie relevante Ausgangsdaten.
Die Arbeit an den Ortsfamilienbüchern wird im Merkblatt für Benutzer und Interessenten der DZfG (Januar 1994) als "anfangs und im Kern völlig unpolitisch" bezeichnet. 1937 sei dieser Forschungsrichtung dann "die nationalsozialistische Blut-und-Boden-Ideologie aufgepfropft" worden. Weiter heißt es im genannten Merkblatt: "Bei der Edition wurden dann aus Familienbüchern 'Dorfsippenbücher' so wie die Familiengeschichtsforschung zu dieser Zeit 'Sippenforschung' hieß. In den fünfziger Jahren begannen die deutschen Genealogen, inzwischen aller Ideologie entkleidet, an die Kirchenbuchverkartungen der Vorkriegszeit anzuknüpfen." 
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